Eine Schreibübung der SchreibEulen

mit drei 'geschenkten' Wörtern

mit einem gedachten Bild nach Art von Quint Buchholz

 

 

Phantastisch! … oder: Wohin ich mich treiben lasse

 

Vorwitzig und leuchtend blau lugen einige Zentimeter des gewebten Bandes hervor. Das Ende gezwirbelt und leicht ausgefranst. Es teilt das Objekt aus Papier und Karton in zwei ungleiche Hälften. Der kleinere Teil der gebundenen Blätter liegt bereits vor dem Lesebändchen. Die Geschichte dieses Buches ist noch dabei, sich warmzulaufen. Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht.

 

Ich liebe Bücher und pirsche mich näher an das vergessene Buch heran. Das Cover wird von Wellen überschwemmt. Sand rieselt bis über den Buchrücken. Ich möchte den Sand zwischen den Zehen spüren. Habe Lust, mich in das kleine Kanu zu setzen, das unruhig auf dem Saum zwischen Meer und Strand liegt. Wo spielt die Geschichte?

 

Verstohlen blicke ich mich um, bevor ich mich an dem Lesebändchen hinaufziehe. Ich klemme mir meine rote Tasche unter den Arm, klettere über die Dünung des Buchstrandes, die wie eine Brüstung wirkt. Meine Espandrilles fliegen von den Füßen. Endlich laufe ich über den Sand auf den Saum aus Gischt zu.  Urlaubsfeeling auf ungewöhnliche Art.

 

Meine Zehen graben sich tief in den warmen Sand. Mit jedem Schritt wird der Untergrund feuchter und ich sacke etwas tiefer. Ich knie mich nieder und gleite mit den Fingern über den gekörnten Untergrund, der warm zwischen ihnen hindurchrieselt wie in einer Sanduhr. Ich schreibe Worte der Phantasie zwischen Muscheln und weiße Steine. Wellen spülen das salzige Wasser immer ein Stückchen weiter in meine Richtung.

 

Jetzt berührt es meine Fußsohlen. Ein Schauer durchfährt meinen Körper, obwohl die Sonne mich ausreichend wärmt. Ich schließe die Augen, höre wie das Boot auf den Wellen schaukelt. Spüre den gleichmäßigen Rhythmus, wenn das Wasser den Leib des Kanus berührt. Durch meine geschlossenen Lider tanzt die Sonne. Leichte Wolkenschatten schieben sich dazwischen.

 

Es wird Zeit, wieder aufzustehen und in die Geschichte einzutauchen. Ich finde die Stelle, an der ich mich abseilen kann und zwänge mich mit aller Kraft am leuchtend blauen Leseband zwischen die Seiten. Ich schlage das Buch auf. Ich verliere mich zwischen grünen Buchstaben auf chamoisfarbenem Papier. Wo ist meine Brille? Ich lege mich auf den Bauch und fange an zu lesen. Im ersten Moment verstehe ich es nicht. Es geht um eine Höhle. Eine Höhle? Wie passt das zu dem Titelbild? Huch, da kommt jemand! Ich verstecke mich hinter dem Vorsprung. Riesige Schatten wabern die Wand entlang. Je näher sie kommen, desto mehr fange ich an zu zittern. Warum konnte ich meine Neugierde bloß nicht zügeln! Die Schritte der Unbekannten sind fest. An ihrem Gang höre ich, dass sie bestimmt doppelt so viel wie ich auf die Waage bringen. Sie machen seltsame Geräusche. Gedämpft dringen Schläge bis an meine Ohren. Schläge. Aber keine Schreie. Vorsichtig taste ich mich aus meinem Versteck hervor. In einiger Entfernung erhellen Kerzen die Wände. Es ist gar keine Höhle. Es ist ein Gang. Ich folge den Stimmen mit Abstand.

 

Hinter der nächsten Biegung sehe ich die Schatten von kompakten Typen. Boxer? Es könnten Boxer sein. Schwergewichtsboxer. Sie tragen Shorts und diese roten Handschuhe. Wo bin ich hier bloß gelandet?

 

„Herzlich Willkommen in der Höhle, Fremder!“

 

Ein Strahler ist auf mich gerichtet. Ich? Meint der mich? Ich kneife die Augen zu aufgrund des grellen Lichtes. Das kann doch gar nicht sein. Ich bin in der Geschichte? Ich habe Angst!

 

Schnell drehe ich mich um, bevor ich die Augen öffne, zwicke mich in die Wange, renne zurück. Da hängt mitten im Gang mein Rettungsanker von der Decke: das blaue Lesebändchen. Ich verknote das gefranste Ende, suche mit den Händen Halt und springe aus der Hocke auf den Knoten. Meter für Meter stemme ich mich nach oben. Hinaus aus dieser unglaublichen Geschichte, hinaus aus der Höhle der Boxer.

 

Fort von dem Strand, dem tosenden Meer.

 

Dem Ort, an den die Phantasie mich geführt hat.