Über den Tellerrand hinaus …                                            

[Die fett gedruckte Szene ist das Puzzleteil/ die Schreibanregung für diese Geschichte und der Feder einer Mitautorin entsprungen.]

 

Wir stehen auf einer Straße mit dunkelgrauem, kleinformatigem Kopfsteinpflaster vor einem roten Backsteinhaus. Die Sonne beleuchtet von links die Szenerie. Der Haussockel besteht aus drei Reihen Backsteinen. Er ist vom Straßenstaub grau verschmutzt und marode. Eine schräg angesetzte Backsteinreihe grenzt ihn von der eigentlichen Hausfassade ab. Deren rote Backsteine sind waagerecht angeordnet. Nur über dem Eingangsbereich und dem Fenster wurden sie senkrecht angebracht. Die Fassade ist vollkommen schmucklos und der Zahn der Zeit hat an der einen oder anderen Stelle das Mauerwerk bröckeln lassen. :) Karin Müller nahm ihren Rotstift zur Hand und malte einen lachenden Smiley neben die letzte Zeile, bevor sie fortfuhr. Anna hatte sich wirklich stark verbessert in ihrer Ausdrucksweise.

Über zwei niedere Stufen aus Stein gelangt man zur Haustür aus Holz. Sie schließt nicht bündig mit dem Mauerwerk ab, sondern wurde etwas nach hinten verlagert und in einem breiten Holzrahmen ohne Verzierung verankert. Tür und Rahmen sind weiß gestrichen, an einigen Stellen blättert die Farbe ab. Spinnen haben in Ritzen und Fugen ihr Nest gebaut. Ein Lüftungsgitter über der Tür weist eine starke Verschmutzung auf. Im oberen Drittel ist ein Schloss eingelassen, ein weiteres befindet sich in der Mitte in einem silberfarbenen Schild mit Türgriff einfachster Bauart. Es ist mit vier Schrauben an den Ecken befestigt. Die Türklinke hängt nach unten. In einer länglichen, senkrechten Aussparung der Tür könnte früher eine Glasscheibe angebracht gewesen sein. Heute versperrt eine Abdeckung in hellgrauer Farbe von außen die Sicht. 

Der Platz für das Fenster ist ebenso groß bemessen wie der für den Eingang. Fensterrahmen und Haustür wurden im gleichen Farbton gestrichen. Möglicherweise befand sich früher an dieser Stelle ein Schaufenster. Heute kann aufgrund eines riesigen Plakates das Hausinnere nicht mehr eingesehen werden. Das Plakat zieht die Blicke magisch an. Vor grauem Hintergrund sind mehrere Objekte in einer Art Stillleben arrangiert:

Was für ein Wortschatz für das junge ukrainische Mädchen. Gespannt erwartete Frau Müller die Beschreibung, die folgen sollte.

Im Vordergrund, an der rechten Ecke, ein volles Glas Milch, schräg nach hinten versetzt eine lindgrüne Steingutschale, gefüllt mit Quark und zwei Erdbeerhälften oben auf, davor vier ganze Erdbeeren noch mit grünen Blättern, hinter der Schale ein großer Krug aus Glas mit Milch, der Griff leicht nach hinten gedreht aber noch sichtbar, links daneben grüne Trauben, rechts neben dem Krug eine weitere Schale aus cremefarbenem Steingut, gefüllt mit Müsli und Milch, einige Müsliflocken verstreut zwischen der Schale und dem Glas im Vordergrund. Drei rote Äpfel rechts hinter der Glaskaraffe bilden den farblichen Kontrastpunkt zu den Erdbeeren in der linken Ecke. 

Annas Lehrerin las wieder und wieder die Beschreibung der Szene. Aus diesem Mädchen wurde sie nicht schlau. Sie stützte den Ellenbogen auf das Pult und zog ihre Augenbrauen nachdenklich zusammen. Es war gut geschrieben. Ja. Aber irgendetwas irritierte sie. Hatte sie das beschriebene Haus schon einmal gesehen, oder existierte es nur in ihrer Phantasie? Und wenn es dieses Haus gab, was hatte es mit dem Leben von Anna zu tun? In welcher Gegend war sie außerhalb der Schulzeit unterwegs? Das Mädchen machte ihr Sorgen. Seit dem Wechsel auf das Gymnasium betreute sie sie auf dem Weg zum Abitur. Die Fünfzehnjährige war vor einem halben Dutzend Jahren mit ihren Eltern und zwei weiteren Schwestern aus der Ukraine hierher gezogen, weil der Vater eine Anstellung im Krankenhaus bekommen hatte. Gebildete Menschen. Sie hatten zügig und erfolgreich mehrere Sprachkurse belegt und konnten sich hervorragend verständigen in der neuen Heimat. B2-Niveau nach kurzer Zeit. Der Vater. Die Mutter. Die drei Schwestern. Die älteren Schwestern waren bereits in der Ausbildung. Eine im Krankenhaus. Sie wollte sicherlich ihrem Vater nacheifern. Die andere? Karin Müller konnte sich nicht recht entsinnen, wo. Trotz Annas Fähigkeiten hatte sie diese mit in das geförderte Nachhilfeprojekt geholt. Heute hatte sie mindestens C1-Niveau. Anna hatte ihre Hochachtung. Und sie selber Annas Vertrauen. Dachte sie.

Nach der Pause beobachtete sie ihre Schülerin, während diese den Lückentext eines Arbeitsblattes vervollständigte. Grammatik war ihr Steckenpferd. Selbst die deutschen Schüler fragten sie manchmal um Rat. Frau Müller schmunzelte. Wirkte Anna anders als sonst? Hatte sie Kummer? Die Lehrerin verglich sie mit den anderen aus der Klasse. Wenn sie diese als Maßstab nahm, war ihr Sorgenkind zwar zurückhaltend, doch oft fröhlicher und vor allem ehrgeiziger als der Großteil der Klasse. Nein, sie wirkte nicht deprimiert oder gar zerfressen von Sorgen. Vielleicht las sie, als ihre Lehrerin, auch nur zu viel aus dieser Geschichte heraus! Anna war ihr doch sehr ans Herz gewachsen.

Nach Feierabend sah sie gerade noch ihren blauen Schal über dem beigen Wollmantel um die Ecke flattern. Musste sie nicht genau in die andere Richtung nach Hause? Aber vielleicht hatte sie auch eine Verabredung. Karin Müller ging erst zögerlich, dann immer entschlossener hinter ihrer Schülerin her. Sie hielt sich im Schatten der efeuberankten Mauer, die die Schule umschloss, dann wechselte sie auf die andere Straßenseite, um hinter den geparkten Fahrzeugen in Deckung zu gehen. Wo wollte Anna denn bloß hin? Immer weiter aus dem Ortskern hinaus zog es das ukrainische Mädchen. Frau Müller stockte kurz und überlegte, ob es sich überhaupt geziemte, dass sie wie eine Detektivin hinter einem Verbrecher herschlich. Sicherlich nicht! Aber wie sollte sie dem Mädchen helfen, wenn sie ein Problem hatte und diese Beschreibung einen Hilferuf darstellte?

Die Gegend war ihr unbekannt. Kopfsteinpflaster bedeckte die Straße. Die Möglichkeiten sich verdeckt zu halten, nahmen schlagartig ab, als Anna um die nächste Ecke bog und sie selber sich Meter für Meter näherte, um um diese zu spähen.

Das Haus! Der rote Backsteinbau, die schmucklose Fassade, das riesige Plakat vor dem großen Fenster. Sie hielt sich überrascht und mit Abstand hinter der schützenden Ecke verborgen. Da war auch das Plakat! Hatte Anna es bemalt? Kunst unterrichtete eine Kollegin, da hatte sie gar keinen Einblick. Aber es sah wirklich talentiert aus, was ihr da ins Auge sprang. Sie würde gerne näher an das Haus gelangen, aber wie, ohne erkannt zu werden? Wenn das Mädchen sie entdecken würde, hätte sie ihr Vertrauen mit Sicherheit verloren! Sie ging einige Schritte zurück, als diese durch einen schmalen Spalt in das Innere des Hauses gelangt war. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Jetzt hatte sie die Zeit völlig vergessen! Um 15 Uhr fand eine Lehrerkonferenz statt! Es half nichts. Sie musste umdrehen und sich sputen, um pünktlich bei der Sitzung dabei zu sein. Hin- und hergerissen machte sie sich auf den Rückweg.

'Hallo Anna, alles in Ordnung bei dir?' Frau Müller strich ihr sacht über den Arm, als das Mädchen am nächsten Morgen die Klasse betrat.

'Ja, danke.'

Sie war doch sonst nicht so kurz angebunden? Vielleicht lag es aber auch daran, dass der Rest der Klasse diese jetzt wie im Sturm eroberte und keine ruhige Minute mehr für ein Gespräch blieb. Auch wenn Anna in die Klasse integriert war, mied diese solche Situationen wie gerade. Heute gegen 17 Uhr wollte Karin Müller dieser seltsamen Geschichte endlich auf den Grund gehen. Sie konnte das Unterrichtsende kaum abwarten. Ausgerechnet heute, am Mittwoch hatte sie langen Unterricht und anschließend die Förderstunde, in der auch Anna war. Doch als sie den Klassenraum für diese letzte Stunde betrat, war es gerade Anna, die nicht auftauchte. Das war noch nie passiert! Sie konnte sich kaum auf die Förderstunde konzentrieren. Wie Ameisen liefen ihre Gedanken kreuz und quer. Kurz vor Unterrichtsende befreite sie sich und die Schüler von der Pflicht. Erstaunt blickten die Jungen und Mädchen sie an, packten dann aber zügig Hefte und Bücher zusammen und begaben sich lachend auf den Heimweg.

Sie schob das Unterrichtsmaterial in ihre Ledertasche, schloss das Fenster und wischte - trotz aller Unruhe - die Tafel sauber und begab sich, noch bevor die Glocke das Ende des Schultages einläutete, auf den Flur und aus dem Gebäude. Sie atmete tief ein. Was würde sie erwarten, wenn sie sich dem Backsteingebäude näherte? Würde Anna wieder dort sein oder …? Unsicher wiederholte sie den Weg, auf dem sie gestern hinter ihrer Schülerin hergeschlichen war. Hinter der schützenden Ecke blieb sie mit klopfendem Herzen stehen. Falls sie jemandem begegnete, konnte sie einfach sagen, sie würde hier spazieren gehen. Ach was, kein Mensch würde sie fragen. Warum sollte es auch irgendwen interessieren? Sie ging zielstrebig über die Straße. Ihre Schülerin war gestern durch einen Spalt geschlüpft und jetzt stand diese weiße Holztür offen! Der Putz blätterte ab. Und hier waren auch die beiden Schlösser, die Anna so detailliert beschrieben hatte. Die herabhängende Klinke.

Sie griff vorsichtig an das Türblatt, bemüht, die lose Klinke nicht zu berühren. Sie zuckte zusammen, als ein leises Quietschen ertönte. Ihr Herz hüpfte unglücklich einen Schritt schneller. Nichts. Bestimmt war Anna nur hier gewesen, um ein Objekt für eine besonders gute Beschreibung zu finden. Aber wenn sie schon einmal bis hierhin gekommen war, konnte sie auch in das Innere des baufälligen Hauses treten. Schritt für Schritt tastete sie sich vor. Es roch stickig und durch die verbarrikadierten Fenster drang nur wenig Licht hinein. Gemurmel erreichte ihr Ohr, als sie den hinteren Teil im Parterre betrat. Starr vor Schreck blieb sie stehen. Sie war verrückt! In was für eine Situation hatte sie sich gebracht? Sie hätte zumindest eine Nachricht hinterlassen sollen. Bei ihrem Mann oder in der Schule! Jetzt war es zu spät.

Ein ältlicher Kopf blickte erschrocken um die Ecke. Mit krank und müde aussehenden Augen, einem wenige Millimeter langen Bartwuchs, einfacher Kleidung. Der Mann legte den Zeigefinger auf die Lippen. Karin Müller registrierte erst jetzt einen kleinen Jungen mit nacktem Oberkörper an seiner Hand, bevor sie zu Boden sackte. Als sie die Augen wieder öffnete, vernahm sie Worte, die sie nicht verstand, dann eine Stimme in gebrochenem Deutsch. Ein weiterer Mann stand vor ihr und hielt ihr eine Flasche unter die Nase. Angeekelt drehte sie ihren Kopf zur Seite. Schnaps! Drei Männer standen um sie herum und lachten.

Eine vertraute Stimme sprach sie an und hielt ihr ein Glas Wasser entgegen. Anna. Ängstlich blickte sie ihre Lehrerin an. 'Bitte, verraten Sie uns nicht. Mein Papa macht nichts Schlimmes!'

Um was ging es hier überhaupt? Frau Müller trank das Glas Wasser aus und ergriff Annas angebotene Hand, um aufzustehen. Sie klopfte sich den Staub von ihrer dunklen Hose. Der anschließende Blick, den sie in das angrenzende Zimmer warf, verschaffte ihr mehr Klarheit. Eine Liege stand mittig in dem mit einem Strahler ausgeleuchteten Raum. Ein kleiner Schreibtisch, der wirkte, als sei er der Sperrgutabfuhr entwendet worden und ein altes Keramikwaschbecken; mehr bot der Raum nicht. Eine große Tasche stand auf einem Stuhl in der Ecke. Ein Stethoskop hing heraus.

Langsam verzog sich der Nebel in ihrem Kopf. Ein Arzt. Annas Vater.

'Was machen Sie hier, Herr …? Jetzt habe ich Ihren Namen vergessen.'

'Dmitriev. Frau Müller. Aber was machen Sie hier, wenn ich fragen darf?'

'Ich habe mir Sorgen um Anna gemacht. Gestern bin ich ihr nachgegangen. Und heute war sie dann auch nicht im Förderunterricht.' Sie wandte sich Anna zu und hob entschuldigend die Schultern.

'Du hast gefehlt, Anna? Darüber sprechen wir noch. Aber …', er wandte sich wieder der Lehrerin zu, 'um meine Anna brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Eher …', er holte mit einer weiten Handbewegung aus, 'um meine Landsleute, die kein Geld haben und keine Kontakte.'

Frau Müller blickte fragend und schüttelte nicht verstehend den Kopf. 'Was meinen Sie?'

'Ich habe dieses baufällige Haus gefunden. Es interessiert niemanden. Hier kann ich meinen Landsleuten helfen. Die kein Geld haben für Medikamente. Und Angst, in ein deutsches Krankenhaus zu gehen. Ich bin Arzt. Und wenn ich keinen Dienst habe, behandele ich sie hier, in dieser Bruchbude. So sagt man doch, oder? Aber das wird jetzt ein Ende haben, wo sie mein Geheimnis entdeckt haben …'

'Ich …' Karin Müller zuckte hilflos mit den Schultern, blickte zu Anna, die sie flehend ansah. 'Ich …, lassen Sie mich bitte einige Nächte darüber schlafen, Herr Dmitriev. Ich hoffe, wir können Ihren Landsleuten helfen und das hier auf eine legale Ebene bringen.'

Herr Dmitriev blickte sie ungläubig an. 'Sie wollen uns wirklich helfen? Das ist gut!'

Die Lehrerin hob abwehrend die Hände. 'Zum Danken ist es noch zu früh. Geben Sie mir Zeit …'

Er schüttelte ihr die Hand mit festem Druck.

'Herr Dmitriev?'

'Ja?'

'Dieses Bild da draußen … dieses Stillleben?'

'Stilles Leben? Was ist das? Sie meinen das Bild? Das hat meine Anna gemalt. Sie ist sehr, sehr gut … Auch in ihrem Herzen.' Dabei klopfte er mit der rechten Hand auf seine Brust.

Frau Müller lächelte ihn zustimmend an und als sie die Szene verließ, dachte sie bereits an einen Spendenaufruf oder die Hilfe eines Fördervereins. Paten, die den fremden Menschen die Angst nahmen. Menschen, die über den Tellerrand hinaus schauen wollten. Sie wäre die Erste …