Schein oder Sein? - Der Glückskeks

[Puzzleteil/ Schreibanregung ist ein

Glückskeks mit der erwähnten 'Weisheit']

 

Leicht verzerrt durch das Glas hatte er gesehen, wie Tom einem weiteren Glückskeks einen Spruch entnahm. Natürlich glaubte er nicht an so einen Humbug. Weissagungen, Astrologie, Zettelchen mit Sprüchen. Aber der Zettel aus dem halbmondförmigen Keks war fast vor seiner Nase gelandet. Wenn nicht Tom, dann würde vielleicht er selber endlich mal Glück haben! Anscheinend hatte der die Lust an diesem Spiel verloren. Kein Wunder, war es doch auch nicht der erste Keks, dem er heute in seiner Langeweile den Garaus machte.

MACHEN SIE EINEN HERVORRAGENDEN EINDRUCK

UND SIE ERREICHEN DAMIT ALLES, WAS SIE WOLLEN.

Rainer Maria stutzte, atmete in einem Schwall die gedachten Worte aus und schaute sich verstohlen um, aber da war ja sonst niemand. War das die Freifahrt für mehr Schein als Sein?

Die Erlaubnis für Oberflächlichkeit? Lug und Betrug? Würde ihm der Satz die ersehnte Freiheit bringen?

Wie lange bereits versuchte er sich zu verändern, herauszukommen aus seiner kleinen Welt, aber jedes Anschwimmen dagegen hatte ihn nicht mal ein kleines Stückchen weitergebracht. Wie konnte er sich bloß hervorheben? Wie machte man einen hervorragenden Eindruck und verfing sich aber nicht in einem Gespinst aus Lügen?  Er konnte sein Profilbild nicht frisieren. Sich anders kleiden? Wie sollte er Fähigkeiten vortäuschen, die er nicht hatte? Er schüttelte sich unsicher; die Tropfen flogen ihm um die Kiemen. Das würde doch irgendwann auffallen.

Schon lange verbrachte er seine Tage alleine. Aber oft war es ihm zu einsam. Ok, Tom war auch da, aber er brauchte mehr Kontakte. Vielleicht sogar eine hübsche Kollegin. Nur wie? Vielleicht kämen ihm morgen bessere und zukunftsweisendere Gedanken, die dem Spruch einen Sinn geben würden.

Am nächsten Tag durchmaß er sein Reich zügig. Hin und her, hin und her, aber ihm wollte keine gute Idee aus dem Hirn springen. Eventuell doch eine optische Verwandlung? Er besah sich sein schuppiges Outfit. Etwas mehr Glanz?

Er schaute in die runden Ecken und enddeckte plötzlich silbriges Schimmern. Was war das? Er schnappte sich etwas davon und befestigte es an seinem Äußeren. Die Scheibe warf ihm ein verzerrtes Bild zurück, doch er war zufrieden. Den Nächsten würde er bestimmt überzeugen können.

Ein junger Mann schritt ohne Hast in seine Richtung und zeigte mit dem Finger auf ihn. Papa, hörte er, bitte der. Er glänzt so schön und er erinnert mich an da Buch, das wir vorhin gelesen haben. Bitte, können wir ihn nehmen? Bestimmt freut sich Henriette, wenn sie Gesellschaft bekommt.

Rainer Maria zeigte sich von seiner besten Seite. Die Silberschuppen glänzten, als er sich anmutig bewegte und einige seiner Kunststückchen zeigte. Schon sauste der kleine Kescher in das Goldfischglas. Rainer Maria zappelte wie verrückt, als er das nasse Element verlassen musste. Aber bald wurde er in einen gefüllten Kunststoffbeutel entlassen. Jetzt musste er nur noch den Kaffeeatem von Tom ertragen, der ihm wohlwollend einigen halb verbrauchten Sauerstoff zukommen ließ. Den traurigen Blick auf den stolzen kleinen Käufer gerichtet.

Seine Abschiedsworte trafen den getarnten Goldfisch mittig zwischen die Kiemen.

Du hast es verdient, Rainer Maria. Auch wenn ehrlich am längsten währt. Du wirst mir fehlen!