Das jüngste Gericht - Ein Schattenspiel

[Puzzleteil/ Schreibanregung ist das Wort Schattenspiel]

 

Er presst die zum Gebet gefalteten Finger vor die kindliche Stirn. Die Daumenknochen drücken sich schmerzhaft zwischen die Brauen. Seine Augen sind geschlossen. Er hat sich einige Zeit eher aus dem Haus gestohlen, um nachzudenken. Vor der Schule. Am besten geht das in der Kirche. In den tanzenden Schatten der großen Kerzen wird er ruhig. Zwischendrin verlassen seine Lippen stoßweise geflüsterte Worte. 'Gebenedeit seist du Maria ...', dann wieder '... vergib uns unsere Schuld'.

Moritz kniet auf dem harten Bänkchen in der letzten Reihe, die Schirmmütze neben sich auf der Sitzfläche. Nach der Ersten Heiligen Kommunion soll er endlich einer der neuen Messdiener werden. Ausgerechnet jetzt ist etwas Schlimmes passiert. Gestern hat der Pfarrer das Vergehen aus dem Schatten gezerrt. Moritz hat Angst. Sie sind doch eine große Familie! Die Jungs und er. Würde er dann daraus ausgeschlossen werden? Moritz blickt aus nassen Augen auf. Er ist schrecklich allein.

Mit wem soll er reden? Mit Joshua? Mit dem Pfarrer? Mit seinen Eltern? Keine Lösung scheint die Richtige zu sein.

Die kleine Gemeinde ist am Vortag erschrocken und ungläubig auseinander gegangen. Ein Verdacht steht im Raum. Gegen Unbekannt.

Warum hat er das bloß getan? Bestimmt ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit, bis der Pfarrgemeinderat den Schuldigen gefunden hat.

Moritz zuckt zusammen, als sich die Kirchtür mit einem leisen Quietschen öffnet und wieder behutsam geschlossen wird. Er schleicht im schummerigen Licht aus der Bank, bevor der Besucher durch den zweiten gläsernen Eingang tritt, und zieht an dem Knauf zum Beichtstuhl. Es ist die mittlere Tür, die, die dem Pfarrer vorbehalten ist. Ein Versehen im Dunkeln. Aber jetzt ist es zu spät, wenn er nicht entdeckt werden will.

Er wagt kaum zu atmen und sich zu bewegen, mittig zwischen den beiden äußeren Beichtkammern. Da wo der Pfarrer abwechselnd dem einen, dann nach dessen Erlösung, dem anderen Schuldigen sein Ohr hinhält. Nah an das kleine vergitterte Sprechfenster, das ihn und die Bittsteller trennt. Im Kommunionunterricht haben sie den Ablauf geübt.

Moritz Herz schlägt bei der Erinnerung genauso aufgeregt, wie an dem Tage, als sich die Holztür hinter ihm schloss und Dunkelheit ihn einhüllte.

Damals hat er nicht gewusst, was er hätte beichten sollen. Zählte es auch schon dazu, wenn er den Müll nicht hinaus bringt, wie es mit seiner Mutter abgesprochen ist?

Er ist augenblicklich wieder im Hier und Jetzt, als sich ein Schatten auf sein Versteck zubewegt. Sehen kann er nicht, wer das ist. Ein Kind bestimmt nicht. Und was will derjenige jetzt hier? Beichtzeit ist erst wieder am Samstag vor der Vorabendmesse.

Moritz erstarrt, als sich die Tür zur Linken öffnet. Nein, bloß das nicht. Sein ganzer Körper zittert. Was soll er machen? Er hat hier nichts verloren. Er ist schuldig. Er drückt sich so eng an die Rückwand des Beichtstuhls, dass er sich beinahe unsichtbar fühlt. Sein Atem presst sich durch die Luftröhre, durch Hals und Nase. Sein Knie fängt unruhig an zu hüpfen. Wie soll er unerkannt aus der Situation heraus kommen? Panisch drückt er sein Bein mit der rechten Hand hinunter. Wie von alleine stolpern die Worte des Vater unsers durch seine Gedanken. Langsam, ganz langsam beruhigt sich sein Atem, bis von links gehetzte Worte an sein Ohr dringen. Mit tiefer Stimme. Kennt er sie nicht?

Nein! Er will nicht wissen, wer da sitzt und was er zu beichten hat. Es steht ihm nicht zu! Er presst die Hände auf die Ohren.

Die Erlösung, seine Erlösung kommt mit dem ausgiebigen lauten Geläut der Glocken. Gott sei Dank! Moritz wagt zu atmen. Leise. Ganz vorsichtig. Gleich würde bestimmt der Pfarrer kommen, um die Frühmesse abzuhalten.

Der unbekannte Büßer stößt die Tür seines Flügels auf, schreitet einige Meter auf und ab und geht nach kurzer Zeit mit schnellen Schritten davon.

Moritz atmet bewusst. Einmal, zweimal, erst flach, dann tief, immer länger und tiefer. Kaum vernehmbar hört er von weit weg spanische Gitarrenmusik. Die Faust drückt sich wieder fest in seinen Bauch. Er kennt den ungewöhnlichen Klingelton. Nach der Glastür schließt auch die große Holztür. Die Geräusche sind ausgesperrt. Moritz späht in die verschwiegene Kirche. Seine Augen gewöhnen sich an das wenige Mehr an Licht. Der Schein der großen Kerzen tanzt über die weiß verputzten Wände, erhellt die bunten Kirchenfenster und wärmt seine zitternden Glieder.

Er überblickt den leeren Kirchenraum und macht zwei, drei Schritte auf die Bank zu, in der er zuvor gesessen hat. Seine Mütze ist weg. Wie soll er der Mutter das erklären? Er will doch nicht lügen. Aber ist es richtig, einen Schuldigen zu decken? Bisher weiß niemand, dass er ihn beobachtet hat, als er das Geld aus dem Körbchen genommen hat. Moritz kann es immer noch nicht verstehen. Warum nimmt er den Armen in Afrika das Geld weg, wo sie doch im Kommunionunterricht gemeinsam afrikanische Lieder gesungen und Geschenke gebastelt habe? Warum nur?

Dem Pfarrer war der Erlös niedrig vorgekommen, viel niedriger als bei früheren Kollekten.

Moritz könnte es beweisen. Er weiß, wo Joshua das Geld später versteckt hat. Er müsste es sagen. Oder … eine andere Idee kämpft sich an die Oberfläche seiner Gedanken. Joshua ist doch wie sein Bruder, er kann doch seinen Bruder nicht anklagen. Vielleicht kann er es selber wieder gut machen. Er. Joshua.

„Moritz, so früh schon hier? Musst du denn nicht in die Schule?“ Auf einmal steht der Pfarrer vor ihm. In schwarzer Hose und schwarzem Rolli.

„Ich … ich bin schon auf dem Weg. Wollte nur mal gucken, ob alles in Ordnung ist.“ Beim Wegdrehen sieht er den fragenden Blick. Hat der Pfarrer etwas gemerkt? Moritz will so gerne einer der Messdiener sein. Aber darf er dann lügen? Oder ist es nur verschweigen?

Am Nachmittag weiß er auf einmal, was er tun kann, um das Geheimnis zu lüften. Er greift sich eine alte Zeitung, flitzt in sein Kinderzimmer und schneidet Buchstaben daraus aus. Jeder ist eine halbe Seite hoch. Die einzelnen Buchstaben verbindet er zu Wörtern.

Am nächsten Tag geht er zwei Stunden vor der Heiligen Sonntagsmesse in die Kirche. In seinem Rucksack hat er 36 Buchstaben, Tesafilm und Bindfaden verstaut. Um diese Zeit ist noch niemand hier. Aber er weiß, dass die Messdiener spätestens vierzig Minuten vor der Messe eintreffen. Joshua noch viel eher.

Moritz muss sich beeilen. Er bindet die Buchstabenkette zwischen zwei Rundsäulen fest. Direkt vorne vor der Sakristei. Vor dem Muttergottesaltar mit den kleinen Teelichtern. Die großen weißen Kerzen werfen die Wortschatten auf die gegenüberliegende Wand.

Hoffentlich erkennt Joshua, was damit gemeint ist. Und hoffentlich gibt er dann das Geld wieder zurück! Moritz mag den siebzehnjährigen Kommunionhelfer. Aber er hat verstanden, dass er sich selber zum Schuldigen macht, wenn er ihm nicht wieder auf den richtigen Weg hilft.

Aus seinem Versteck in der Nähe des Eingangs sieht er, dass dieser die Kirche betritt. Er selber wartet draußen zwischen den Sträuchern, bis eine große Anzahl an Gläubigen zur Messe strömt und geht mit ihnen hinein.

 

WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSEREN SCHULDIGERN  prangt im Seitenflügel der Kirche, so, wie Moritz es vorbereitet hat.

 

Die Menschen flüstern, als sie das Schattenspiel erkennen. Einige zucken mit den Achseln, schütteln fragend den Kopf. Die Gemeinde sitzt gespannt auf den Kirchbänken und wartet auf eine Erklärung.

„Liebe Gemeinde“, setzt der Pfarrer an, nachdem er mit den Messdienern die Messe eröffnet hat, „ich freue mich sehr, dass sich der Diebstahl eines Teils der Kollekte für die notleidenden Mitmenschen in Afrika aufgeklärt hat.“

Ein Raunen erhebt sich. Aufmerksam blicken die Besucher des Gottesdienstes nach vorne.

„Sie haben bestimmt gesehen, dass jemand, der anscheinend nicht genannt werden möchte, eine Botschaft gebastelt hat, um dem Dieb des Geldes ein Zeichen zu geben. Das finde ich sehr löblich! Bereits vor einigen Tagen allerdings ist mir die Verfehlung gestanden worden. Das Geld ist wieder in meiner Obhut. Der Dieb ist mir bekannt und hat sich vollumfänglich für diese Tat entschuldigt.“

Moritz atmet lange aus. Dann hat er sich doch nicht ganz in Joshua getäuscht. Er ist so froh, dass er den Weg der Umkehr ohne seine Hilfe geschafft hat. Nach der Messe geht er nach vorne, um ein Licht anzuzünden. Die Kirche ist augenscheinlich leer, bis auf den Pfarrer, der im Altarraum beschäftigt ist. Moritz blickt stolz auf seine papierne Botschaft, als ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legt.

 

Es hätte keiner Worte bedurft. Er weiß es auch so. Trotz allem freut er sich, als er Joshuas Stimme hört.

„Verzeih mir, Moritz.“