wAS BISHER GESCHAH ...

„Scheiß Verspätung immer!“, schimpfte Henni und trat von einem Bein auf das andere. Es war unangenehm nasskalt und sie hatte keine Zigaretten mehr. Ihre ehemals wasserfeste Winterjacke, ein Geschenk von Uwe, dem alten ... hatte ihre besten Jahre auch hinter sich. „Ach Henni!“, seufzte sie. Nur ihre Mutter rief sie mit ihrem vollem Namen Henriette. „Wir sind schon ganz schön alt geworden, wir beide.“ Der Junge, der neben ihr im Buswartehäuschen stand, schaute sie irritiert an. Sie schaute weg und entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine beleuchtete Leiter. „Junge, sieht du das auch?“, fragte sie. Er drehte demonstrativ seinen Kopf zur Seite. Henni seufzte erneut. Wo war sie nur hingegangen, die Phantasie der Menschheit, ihre Traumbereitschaft, ihr Wunsch, leuchtenden Leitern in den Himmeln zu folgen und dort wem auch immer zu begegnen. Sollte sie vielleicht noch einen Vorstoß wagen? „Hast du mal eine Zigarette für mich?“ fragte sie vorsichtig den von ihr abgekehrten schmalen Rücken in seiner viel zu großen Felljacke. Ob er wohl glaubte, dass er eines Tages in diese Jacke hineinwüchse? Vielleicht führte die Leuchtleiter direkt zu seinem Ziel, dabei fiel Henni das Monopoly Spiel ein und den Spruch, den sie tausendmal zu Hause gesagt hat: „Gehen Sie direkt ins Gefängnis, gehen Sie nicht über Los!“ Der junge Mann drehte sich verwundert um…  Er zog den Stöpsel des In-ear-wireless-Kopfhörers aus seinem linken Ohr – Henni sah, dass seine Ohrmuschel sehr groß und an den Rändern ganz rot vor Kälte war. „Wie bitte?”, fragte der Junge mit den großen Ohren. Henni führte ihre zwei zigarettenlosen Finger in einer Rauchergeste zum Mund. Der Junge verstand und schüttelte bedauernd den Kopf. In diesem Moment kam der verspätete Bus um die Ecke und rollte in gemächlichem Tempo auf die Haltestelle mit den zwei Wartenden zu. Der Junge kramte in den tiefen Taschen seiner Felljacke nach dem Fahrschein. „Jetzt bist du gleich im Warmen, Henni”, murmelte Henni. Sie hatte keine Zeit sich zu wundern, warum der Bus an diesem geschäftigen Adventsabend im Innern dunkel war und ohne Passagiere zu fahren schien – und was hatten die gelb leuchtenden Buchstaben “L-E-V” in der Zielanzeige über der Windschutzscheibe zu bedeuten? Der Bus kam direkt vor ihrer Nase zu einem Halt und die Türen öffneten sich mit einem hydraulischen Seufzen. Eine Frau in einer gelben Weste mit Reflexionsstreifen stieg aus und verstellte ihr den Weg zum Einsteigen. Die Türen des Busses schlossen sich zischend und das Gefährt verschwand in der regennassen Nacht. „Was soll das?”, wollte der Junge wissen und stapfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.  „Heute haben wir Leiter-Ersatz-Verkehr”, verkündete die Frau und deutete auf den Baum, an dem die leuchtende Leiter lehnte. „Leiter-Ersatz-Verkehr??????“, fragte Henni und man konnte richtig hören, dass Henni sechs Fragezeichen angehängt hatte. Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich nur mehr. Die ganze Situation kam ihr etwas gar spooky vor. Doch wusste sie nun wenigstens, dass sie nicht die Einzige war, die die scheinbar in den Himmel reichende leuchtende Leiter sehen konnte. Ihr fiel ein Stein von Herzen, weil sie seit einiger Zeit immer wieder in Situationen kam, in denen sie an ihrem Verstand zweifelte. Aber darüber wollte sie gerade jetzt nicht nachdenken. Damit würde sie sich ein anderes Mal auseinandersetzen. Nun hatte sie ja, eine Zeugin, die auch die Leiter sah, somit konnte es mit ihrem Verstand noch nicht so schlimm sein. Wobei Henni ganz unruhig wurde, als sie die Frau etwas genauer betrachtete. Kannte sie diese Frau? Hatte sie sie schon einmal gesehen? Henni konnte nicht sagen, was es war. Aber irgendwas kam ihr an der Frau komisch und auch bekannt vor. Neben den Fragen zu der Frau waren noch die Fragen zu klären, was ein Leiter-Ersatz-Verkehr sei und wohin der Bus verschwunden war. Wenn sie doch nur eine Zigarette hätte, das Nachdenken fiel ihr beim Rauchen immer leichter. Aber sie hatte vor zwei Monaten zu rauchen aufgehört. Sicher, sie hatte den Jungen um eine Zigarette gefragt. Doch das war eher zur Gesprächsanbahnung gedacht gewesen. Sie musste mit irgendwem reden. Henni fühlte sich total verwirrt und verloren. In ihrem Kopf sausten die Fragen herum wie die Bienen vor dem Bienenstock. Und wieder tauchte in Henni der Zweifel an ihrem Verstand auf. Die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen sich regelrecht. Warum nur hatte sie das Gefühl diese Frau zu kennen? Warum fühlte sie sich so verbunden mit ihr? Sie, liebe/r Leser/in haben bestimmt auch schon dieses seltsame Gefühl von Verbundenheit gespürt, dieses Gefühl das Gegenüber genau zu kennen, obwohl sie ihm/ihr noch nie begegnet sind. Dieses Gefühl dem Gegenüber alles erzählen zu können, weil Sie einfach glauben, dass es richtig ist diesem Menschen zu vertrauen. Aber zurück zu Henni und der leuchtenden Leiter. Ein Leiter-Ersatz-Verkehr musste ja zwangsläufig etwas mit der leuchtenden Leiter auf der anderen Straßenseite zu tun haben. Sie war neugierig und ängstlich zugleich. Sie hatte das Gefühl etwas Verbotenes zu tun, wenn sie nur einen Schritt in die Richtung des Baumes machen würde, an dem die Leiter lehnte. Gleichzeitig wollte sie aber auch wissen, was es mit dieser Leiter auf sich hatte jetzt wo auch diese mysteriöse Frau aus dem Bus diese Leiter zu sehen schien. Sie blickte in die Richtung des Jungen, den sie zuvor nach einer Zigarette gefragt hatte. Dieser schien schwer genervt zu sein, dass der Bus einfach ohne ihn losgefahren war und er nicht weiterfahren konnte. Gleichzeitig erkannte Henni plötzlich, dass der Junge neben ihr die Leiter gar nicht zu sehen schien und die Frau vor sich anschaute, als wenn diese von einem anderen Stern wäre. Henni nahm allen Mut zusammen und sprach die vor ihr stehende Frau an…  „He, Sie da von den Verkehrsbetrieben, irgendwas kann nicht stimmen. Der Bus fuhr nach links, da wo ich hinwollte, die Leiter führt nach oben.“ „Das Licht wird allen den rechten Weg weisen“, sagte die Frau seelenruhig. „Na denn los, muss ja weitergehen“, grummelte Henni und überquerte die Straße, die Frau mit der Warnweste blieb an der Bushaltestelle stehen. „Kommen Sie nicht mit?“ rief Henni ihr noch zu, aber die Frau lächelte sie bloß auffordernd an. Vom Jungen mit der Felljacke war eher keine Unterstützung zu erwarten, der Nikolaus ließ sich auch nicht blicken, alles musste man selber machen. An der Leiter angekommen, fluchte Henni wieder. Ausgerechnet heute hatte sie den Rucksack zuhause gelassen und ihren Kram in eine Plastiktüte gestopft, die beim Aufstieg stören würde. Die Handschuhe hatte sie auch liegen lassen. Mit ihrer Rechten tastete sie zaghaft nach den Holmen. Oh, wunderbar warm waren die, weder eisekalt noch brennend heiß, wie sie es von leuchtenden Glühbirnen kannte. Beherzt kletterte Henni auf die erste Sprosse, dann auf die nächste und plötzlich befand sie sich schon fünf Meter über der Erde. Nur nicht nach unten schauen, Henni, dann wird alles gut, sagte sie sich. Sie spähte nach oben in den Baum. Vor ihren Augen lagen die Lichter der Stadt. Doch was war das? Es fehlten die Lichter der Hochhäuser. Henni blinzelte. Da waren gar keine Hochhäuser. Und das alte Rathaus aus den 50ern stand auch noch an seinem angestammten Platz. Keine moderne neue Altstadt, sondern die liebgewordenen Brache der Nachkriegszeit breitete sich vor dem Dom aus. Konnte das sein? Das war doch die Stadt ihrer Kindheit und Jugend. „Ich glaub es nicht, ich glaub es nicht“ murmelte Henni unablässig vor sich hin, während sie vorsichtig Stufe um Stufe der leuchtenden Leiter emporstieg. Die Plastiktüte in ihrer linken Hand wurde immer schwerer. Was musste sie auch 2 kg Orangen auf einmal kaufen. Gut, es war das Sonderangebot gewesen, aber wann sollte sie die eigentlich alle essen, mochte sie überhaupt Orangen? Henni seufzte und legte eine Verschnaufpause ein. Sie lehnte ihren Kopf an eine der leuchtenden Sprossen und wagte einen Blick hinunter. Dort breiteten sich die Sterne aus. Henni wunderte sich über nichts mehr. War nicht heute Nikolausabend? Hinter ihr hörte sie ein Ächzen und Stöhnen. Die Leiter vibrierte ein wenig. Von unter herauf dröhnte eine tiefe Stimme. „Na, was is, geht es da mal bald weiter?“  Henni erschrak so sehr, dass sie die Tüte mit den Orangen fallen ließ. „Autsch, verflucht nochmal, mit was werfen Sie denn nach mir?“, schimpfte die Stimme nach oben. „O shit Henni, da haben wir mal wieder etwas angerichtet. Was machen wir jetzt nur? Runter geht nicht mehr und hoch ...?“ Sie schaute langsam nach oben und ihr wurde prompt schwindlig. „Wir schauen wieder runter und in die Sterne.“ „Tschuldigung, das waren Orangen!“, rief Henni nach unten. „Hier geht es gerade nicht weiter.“ „Orangen? Sie nehmen Orangen mit auf d-i-e-s-e Leiter? Ich glaub‘ es nicht!“ Die Stimme schien mit dem Kopf zu schütteln, zumindest klang es so. „Henni, unsere beste Taktik im Leben ist schon immer ablenken gewesen. Das können wir, oder?“, flüsterte Henni und nickte. „Haben Sie d-a-s auch gesehen?“, fragte Henni nach unten und schaute noch einmal in die Sterne unter ihr. Die veränderte nächtliche Skyline der ihr sonst so vertrauten Stadt war geblieben und nicht verschwunden. „Natürlich, was glauben Sie, wieso ich diese Leiter hinaufkraxele und mich sogar mit Orangen bewerfen lasse?“, lachte die Stimme laut und dröhnend. 

„Jetzt bin ich gespannt“, sagte Henni zu sich. „Der da unten weiß anscheinend mehr als ich.“ Laut rief sie hinunter: „Ja, klar, dann haben wir ja denselben Anlass. Tschuldigung noch mal wegen der Orangen. Ähm, wollen Sie nicht erstmal zu mir hochkommen?“

„Würde ich ja gerne, aber mir scheint, dass Sie die Regeln nicht so sicher beherrschen, sonst wüssten Sie, dass immer 10 Stufen Abstand zwischen zwei Personen gehalten werden müssen. Sonst klappt das mit den Altersabständen nicht.“

Henni verstand nur Bahnhof. Altersabstände? Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Muskeln straff und trainiert waren, dass sie lange Haare hatte und ihre Augen alles bestens scharf sehen konnten. Sie schaute ihre Hände an: Keine Runzeln und Falten mehr! Ihr blieb der Atem weg.

„Na, was ist denn jetzt, gehen Sie weiter?“, dröhnte es wieder von unten. „Ich will nicht ewig bei 79 Jahren verharren!“ 

 

Türchen 10: 

 

Wie sollte sie das denn jetzt verstehen? Konnte das wirklich die Wahrheit sein, dass der Mann und vielleicht auch sie selber mit jedem Schritt oder auch mit jeweils zehn Sprossen immer jünger würden? Und warum kannte er die Regeln und sie nicht? War er die Leiter schon einmal heraufgestiegen? Vor lauter Überlegungen schwirrte Henni der Kopf. „Augenblick mal. Ich muss noch etwas Pause machen“, rief sie ihrem Verfolger nach unten zu. Sie versuchte, eine bequeme Stellung zu finden und schob einen Arm durch die Sprossen, um sich an Ort und Stelle halten zu können. Dabei berührte sie etwas Federleichtes, das sie gedanklich wieder aus dem Gleichgewicht brachte.

 

Was war denn das jetzt, mitten im Winter? Aber wenn sie über sich die Lichter der Stadt und unter sich den Sternenhimmel sah, warum um Himmels Willen sollten dann genau jetzt keine hübschen Pusteblumen aus der Sprosse über ihr wachsen. Unwillkürlich dachte sie einige Jahre zurück. Was wäre, wenn sie heute tatsächlich einen Wunsch frei hätte? Vorsichtig zog sie eine der weißen luftigen Blüten zu sich heran, schloss die Augen und pustete …

 

Weiter geht es Morgen mit dem 11. Türchen von Anneliese als BlogGast bei Gruenraumschreiben.de