Seerosen                Puzzleteil/ Schreibanregung ist der Begriff 'Seerosen']

 

Ich fahre vor Schreck in die Höhe! Was ist das? Dann sehe ich die Bescherung. Die gute Kaffeetasse aus Omas Erbmasse liegt umgekippt auf der Untertasse mit dem blumigen Muster der ganzen Servicekollektion. Gut eine halbe Tasse Kaffee Crema verteilt sich auf meiner hellen Hose, schwimmt in der Untertasse und tropft von der Tischkante des kleinen Beistelltisches. Den Löffel finde ich auf dem Terrassenboden rechts neben mir. Ich stelle den Liegestuhl wieder in Sitzposition.

Der gute Kaffee. Die gute Hose. Wie immer habe ich mich in Träumereien verloren. Sobald ich den Kaffeelöffel in der Hand halte und den Milchschaum in kreisenden Bewegungen verrühre, zieht es mich aus der Realität in die Fiktion. In Wunschträume und gelebte Erinnerungen. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den kreisenden Milchschaum wie einen Sog, der mich mitreißt. Wie hypnotisiert starre ich nach wie vor auf den kläglichen Rest in meiner Tasse. Erkenne wie ein geübter Kaffeesatzleser das soeben gewonnene Bild einer Seerose in artfremden Farben. Kaffeebraun mit capucchinofarbenen Blättern. Zartbitterfarbenen Sprenkeln. Wieder dreht sich die Rose für mich wie ein Kettenkarussel auf einer Kirmes.

Musik ertönt. Aber keine Kirmesmusik. Klassische Musik! Schwanensee. Tschaikowski. Die Seerose öffnet sich und – ich traue meinen Augen kaum – ein kleines Menschlein sitzt darin, erhebt sich in einem cremefarbenen Tutu, zart und feingliedrig, mit einem glänzenden passenden Top. Es erhebt sich so leichtfüßig, wie sich niemals ein normaler Mensch erheben würde, die Füße sind gestreckt, die Knie durchgedrückt. Der Rücken gerade. Ein Lächeln im Gesicht. Sie neigt sich mir zu und ich stutze, als ich ihre Gesichtszüge erkenne. Es sind meine eigenen mit höchstens fünf Jahren. In meiner Magengegend verspüre ich ein Ziehen. Warum kann ich nicht loslassen?

Mein Kindheitstraum! Primaballerina in der Staatsoper. Das Mädchen zieht mich wieder in ihren Bann, wie sie da steht und auf Zehenspitzen in der Schale der Seerosenblätter balanciert. Ich spüre sie. Ich bin sie und sie ist ich. Ich weiß, was sie fühlt. Was sie denkt. Was sie möchte. Ich kenne ihre Ziele. Ihre Wünsche und Träume und ihre Leidenschaft für das Ballett, die mehr, viel mehr ist als reine Freizeitbeschäftigung.

Die unglückliche Liebe der verzauberten Schwanenprinzessin. Eine Träne rinnt mir hinab und holt mich zurück in die Realität. Ich kneife die Augen einige Male auf und zu, wische die sentimentalen Überreste von der Wange.

Auf geht’s Leonora, ermuntere ich mich selber und nehme meinen Gehstock, der mich stützt, seit ich vor nunmehr siebzig Jahren den schweren Tanzunfall hatte. Auf meiner Bühne des Lebens.