Charakterköpfe

 

Mit gesenktem Kopf sitzt er vor dem gigantischen Instrument, dessen Klänge in wenigen Minuten die Kuppel der Ludwigskirche erfüllen sollen.  Hermann richtet den gebeugten Oberkörper auf, streicht mit dem angefeuchteten rechten Zeigefinger die eine, bekannt widerspenstige und buschige weiße Augenbraue glatt und hüstelt dezent in das eilig herbeigezauberte Taschentuch. Er strafft die Schultern und setzt die feingliedrigen gebräunten Hände auf die Tasten der Orgel.

 

Die Kirche ist voll.

 

Er tritt das Pedal, um das Instrument mit Luft zu versorgen. Das Gemurmel im Kirchenschiff ebbt ab. Er atmet tief und konzentriert ein und lässt die ersten Töne der bekannten Sonate erklingen. Der Hall wandert durch das Gotteshaus, perlt von der hölzernen Decke der Empore und wiegt den Organisten in seine musikalische Reise.

 

Alles um ihn herum gerät in Vergessenheit. Es gibt kein Publikum. Es gibt nur die      Figuren von Andrea Ledwolorz        Leidenschaft für das Instrument. Und Hermanns Liebe zu Gott.

 

Die letzten Töne verklingen und holen ihn vorsichtig aus einer anderen Welt. Er lässt den Schlussakkord ausatmen und bleibt regungslos auf seinem Hocker sitzen. Begeisterter, doch erst zögerlicher Applaus nimmt sich Raum. Das Publikum scheint unsicher, ob es angemessen ist, in einer Kirche zu klatschen.

 

Auf der Empore macht sich der eigentliche Star dieses musikalischen Events bereit. Jule, Hermanns Nichte, nervös und dann mit kalten Fingern gesegnet, holt sich die letzten Aufmunterungen von ihrem Onkel ab. Er nickt ihr väterlich zu und reckt den Daumen nach oben. Lautlos flüstert er ihr ‚Du kannst das!‘ zu.

 

Jule zupft an dem langen fließenden Kleid, das sie nur für diesen Auftritt erworben hat. Als Musikstudentin knappst sie mit ihren finanziellen Mitteln und das Leben in Darmstadt ist leider teuer. Ein leises Räuspern lässt sie aufhorchen. Hermann gibt ihr ein Zeichen.

 

Sie lockert sich und kreist die Schultern, bläst die Backen und fletscht gespielt die Zähne. Hoffentlich ist sie gut genug eingesungen. Ein letztes Mal greift sie an ihren Anhänger, der an der langen, dünnen Goldkette hängt und wie ein Pendel hin- und herschwingt.  ‚Gib mir die Ruhe und Gelassenheit, die ich brauche und lass mich nicht aus dem Takt kommen!‘, bittet sie wortlos.

 

Hermann spielt die ersten Töne des ausgesuchten Stückes, bevor Jule mit sicherer Stimme ihr Debüt in dem farbenfrohen Kuppelbau gibt. Hermann bemerkt den rosigen Glanz auf ihren Wangen und das Leuchten, das ihre Augen immer deutlicher bestimmt. Mit jeder Strophe singt sie sicherer und unterstützt sich dabei mit Gesten. Der letzte Ton ist glockenklar.

 

Stille.

 

Deutlich länger als bei seinem Orgelspiel hält dieser Zustand an, bis endlich nicht nur Applaus einsetzt, sondern auch zustimmende Rufe nicht mehr enden wollen. Stolz und dankbar blickt Hermann auf seine Jule.