Ohne Traute

 

Ganz leicht fängt er an zu zittern. Der rötlichblonde Haarkranz unter seinem Hut juckt und wahrscheinlich hat er auch schon Schweißperlen an den Schläfen. Die Situation ist gar nichts für Clemens. Er hasst es, wenn er auffällt und wenn er mutig seinen Mann stehen soll. Er hält sich lieber im Hintergrund, auch wenn er in der letzten Zeit oft über seinen Schatten gesprungen ist. In der letzten Zeit – also, seitdem er Margarethe kennt. Wenn die jetzt hier wäre, würde sie sich noch zehn Zentimeter größer machen, ihren Klapphocker vor die Brust halten und Tacheless reden. Clemens Hand krampft sich um den Haustürschlüssel in seiner Manteltasche. Der Polizist, der im Seniorenkino über die Gefahren berichtet hatte, denen vor allem die älteren Mitbürger ausgesetzt sind, hatte ihnen erzählt, wie man einen Schlüssel in die Hand nimmt, um sich besser wehren zu können. Der Typ da, am WochenmarktStand von Hannchen, ist ihm auf jeden Fall nicht geheuer. Von wegen, nur schlechtes Benehmen.

Clemens geht noch einen Schritt zurück. Margarethes Freundin Hannchen sieht er auch an, dass ihr die ganze Sache nicht koscher ist. Und gerade heute ist sie ganz alleine hinter dem Stand. Und passt auch noch auf das Nachbargemüse auf, weil der Marktbetreiber von dem Bio-Hof mal eben, ja, er kann es ruhig deutlich sagen, mal die nächste Keramik aufsuchen musste. Das hat er alles vorhin mitbekommen. Er steht schon eine ganze Zeit vor der Bank und wartet auf seine Margarethe.

„Nicht!“ Laut schallt Hannchens Stimme bis zu ihm.

In dem Augenblick bemerkt Clemens, dass sie ihn auch gesehen hat. Sein Herz rutscht sprichwörtlich in die Hose. Soll er jetzt oder muss er helfen? Aber er kann doch auch Hannchen nicht alleine jonglieren lassen mit dieser Type. Ach herrjeh! Genau in dem Augenblick erscheint aus Richtung Parkhaus-Eingang von Karstadt der andere Marktbetreiber und zieht sich noch die Hose und seinen Gürtel zurecht.

„Clemens, hast du schon lange auf mich gewartet?“ Margarethe steht auf einmal vor ihm.

„Ha! Hast du mich erschreckt! Guck mal, wir müssen Hannchen zu Hilfe kommen, jetzt sind wir auch zu dritt. Sie war gerade ganz alleine hinter den beiden Ständen und dieser Typ …“

Bevor er auch nur zu Ende erzählen kann, hat sich seine liebe Nachbarin abgewendet und eilt mit einem Sprint auf ihre Freundin zu. Dem jungen ungehobelte Mann bleiben seine schäbigen Worte im schmutzigen Hals stecken, als Margarethe ihm von hinten auf die Schulter tippt. Clemens eilt hinter ihr her. Der Mann hat keine Chance, seinen Wutausbruch weiter auszubauen, denn nun kommt auch der andere Marktbeschicker und kreist ihn von der anderen Seite ein.

„Junger Mann, was soll das denn hier für eine Vorstellung werden! Können Se mir mal erklären, warum Se hier nen lauten machen. Kaufen Se was für gutes Geld und wenn nicht, verschwinden Se hier. Unsere Kollegin wird nicht beleidigt! Ist das klar?“

Erst da sieht Margarethe, dass der Typ einen abgebrochenen Flaschenhals in der Hand hält. Im Null komma Nichts dreht ihm Margarethe den Arm auf den Rücken. „Clemens, nun mach mal. Nimm ihm das Ding ab und dann ruf die Polizei. Das kann nicht angehen, dass unser Hannchen hier bei ihrer ehrlichen Arbeit bedroht wird.“

„Aber …“

„Mach einfach!“

Clemens nimmt dem Mann die gefährliche Waffe ab. „Ich, ich habe doch kein …“

„Meine Handtasche. Da ist das Handy drin. Die Sperre ist unsere Hausnummer und mein Alter. Das im Sommer. Aber nicht laut sagen. Ich kann den Mann hier gerade mal nicht loslassen!“ In dem Augenblick windet sich der Mann und will Margarethe entwischen. „Keine Chance, junger Mann. Zur Not setze ich mich auf Sie drauf. Und das wollen Sie bestimmt nicht! - Hast du jetzt endlich das Handy offen?“

„Ja. Aber mit 110 das geht nicht. Oder? Doch warte mal …“ Es tutet. „Ja. Ja. Wir brauchen einen Polizisten auf dem Markt. Wie? In welcher Stadt? Ach so, Iserlohn. Ja, da hat einer die Hannchen bedroht. Nein, verletzt ist niemand. Ja. Wir warten.“

„Gut gemacht, mein Teuerster.“

„Ich … Ich hätte viel eher zu ihr gehen müssen. Der hat ja schon vorher rumgeschrien. Aber ich habe auch nicht gesehen, dass er die kaputte Flasche in der Hand hatte. Ehrlich, wenn ich das gewusst hätte …“

„Ich glaube, du kannst noch eine Portion Selbstbewusstsein gebrauchen, Clemens. Oder Selbstverteidigung. Hannchen, was hältst du davon? Wir drei oder am besten wir nehmen die anderen Grazien auch noch mit. Bestimmt gibt es einen Kurs für Senioren. Da wette ich für!“

„Da würde ich mich nicht trauen, dagegen zu halten. Das ist eine gute Idee.“ Clemens blickt sie anerkennend an.

„Und Hannchen, pack schon mal ein, ich glaube für heute langt es, wenn die Obrigkeit hier ist, und dein Chef den Wagen angehangen hat, gehen wir zum Mittagstisch in die Marktpassage. Auf so einen Schreck müssen wir uns was Deftiges zu Gemüte führen.“