Vlaimie und das Zeugnis der Vergangenheit

[Puzzleteil/Schreibanregung sind zwei von

Mitautorinnen 'gezeichnete' Charaktere.]

„Vlaimie! Jetzt komm endlich aus dem Gebüsch! Was machst du denn da? Lass los!“

„Wuff!“

„Mensch!“ Welche Ironie … „Bei Fuß! Wenn du nicht endlich hörst, lege ich dir die Leine wieder an!“ Ich lege jede Menge Strenge in meine Stimme. Aber ich bleibe ungehört, oder besser gesagt, meine Autorität wird missachtet. Normalerweise hört meine kleine Prinzessin aufs Wort, so verwöhnt sie auch ansonsten ist. Aber sie pariert. Was mag sie jetzt gefunden haben?

„Wuff!“

Ist das Bellen bereits entfernter gewesen, als das letzte? „Ich komme jetzt!“ Vielleicht hilft dieser letzte Ruf, dass sie sich von ihrem Fund losmacht und aus dem Gebüsch kriecht. Ich warte noch einen Augenblick. Nichts! Ich biege die Zweige des niedrigen Buschwerks auseinander, nachdem ich mir auf dem Grasrand bereits nasse Socken geholt habe. Diese Trekking-Sandalen sind doch nicht die richtige Wahl für unseren Streifzug an der frischen Luft. Heute nicht.

Nicht, dass Sie sich wundern, geneigte Leser, dass ich Prinzessin zu meiner Hündin sage, aber Vlaimie soll tatsächlich einem belgischen Adelsgeschlecht entstammen, wenn nicht sogar dem dortigen Königshaus. Ich halte das schon immer für völligen Hokuspokus, aber man kann nicht wissen. Eine Freundin, Henriette von Müllenbach, glaubt tatsächlich, sie wäre in ihrem früheren Leben ein Rotkehlchen gewesen! Ihre Haarfarbe, ja, die könnte wirklich darauf hindeuten. Aber wissen Sie, Henriette ist auch leicht verschroben. Dabei umgänglich und nett. Na ja, Schwamm drüber. Jeder hat seine Besonderheiten …

Völlig in meine Gedanken vertieft, stolper ich weiter über Wurzeln und Äste. Wieder wische ich mir Reste eines Spinnennetzes aus dem Gesicht. Wie tief bin ich schon in den Wald vorgedrungen? Habe ich mir Punkte gemerkt, dass ich wieder hinaus finde? Herrjeh! Nicht nur, dass Vlaimie sich womöglich in einer misslichen Situation befindet! Ich womöglich auch! Immer dunkler wird der Wald. Bald kein Licht dringt mehr durch das Dach aus Blättern und Nadeln.

„Vlaimie!“ Angst liegt in meiner Stimme, als ich sie erneut rufe. Kein Laut. Kein Winseln. „Vlaimie! Prinzessin!“ Ganz leise höre ich ein Geräusch. Das kann sie gewesen sein. Zur rechten oder zur linken Seite? Wie soll ich meine Schritte lenken? Der Boden ist leicht matschig hier. Ungewöhnlich, wo solch ein dichtes Dach kaum Regen durchlässt. Ist ein Bach in der Nähe? „Vlaimie?“ Ich lausche angestrengt.

„Wuff. Wuff. Wuff!“

Gott sei Dank! Noch ein Stück entfernt. Auf 11 Uhr vermute ich. Den ersten dicken Kratzer bekommt mein Gesicht ab, als ich einem Ast nicht zeitig ausweiche. Hätte ich doch den Kompass dabei. Wie viele Meter bin ich bereits vom Waldrand entfernt? „Vlaimie!“

Ich zucke zusammen, vor Erleichterung, so nah bellt sie mir ihre Antwort entgegen.

„Wuuuff!“

Als ich den hohen Efeu durchschreite, sehe ich endlich das schwarz-weiße Fell meines Collie. Das ansonsten ganz dicht und gepflegt ist. Jeglicher Glanz ist zwischen Ästchen und Tannennadeln versteckt, die sich mit Blattwerk und Schmutz im Fell verfangen haben. Sie wedelt aufgeregt mit dem Schwanz, weicht aber nicht von der Stelle.

„Guter Hund! Was hast du gefunden? Gib her!“ Erst da sehe ich es vor ihren Pfoten liegen. Es handelt sich gar nicht um ein Tier, wie ich es zuerst vermutet habe. Auch – verzeihen Sie noch einmal, geneigte Leser, falls Sie mir bis hierhin gefolgt sind – Gott sei Dank, handelt es sich auch nicht um einen Menschen oder Kleidungsstücke desselben. Das würde ich auch selber niemals erleben wollen!

Vlaimie beobachtet mich mit Argusaugen, falls man das auch bei Hunden so nennen mag, als ich ihr das Ding vorsichtig zwischen den Pfoten fortnehme und sie nochmals lobe. Das Ding ist aufgeschlagen und befleckt, wirkt zerfleddert. Ein Teil der Seiten scheint herausgerissen! Warum hat es seinen Platz hier, tief im Wald, gefunden? Wer mag es verloren haben, denn mit Absicht würde niemand ein offensichtlich altes Tagebuch, wie mir scheint, liegen lassen? Ich benötige mehr Licht, um dieses ins Dunkel bringen zu können.

„Bei Fuß, Vlaimie!“ Sofort springt sie auf und folgt mir in die eingeschlagene Richtung. Auf 15 Uhr, so hoffe ich, dass wir unseren Weg aus diesem Waldstück finden, ohne Hänsel und Gretel Konkurrenz zu machen. Es erfordert einige Richtungsänderungen, aber meine Prinzessin erweist sich letzten Endes als die bessere Spürnase und wir erreichen nach einiger Zeit den lichteren Waldrand. Auf einem abgeschlagenen Baumstumpf lasse ich mich nieder, Vlaimie zu meinen Füßen.

Jetzt ist Gelegenheit, dieses Buch näher in Augenschein zu nehmen. Es hat einen festen Einband in olivgrüner Farbe, eine marmorierte Struktur. Sehr deutlich ist ein Wappen darauf zu erkennen. Wenn mich nicht alles täuscht, ist es das des alten Geschlechtes der Flamen, aus dem das belgische Königshaus entsprungen ist. Vorsichtig schlage ich die erste Seite um und entdecke eine Inschrift. Eine Widmung? Mit rotem Wachs ist ein Motiv daneben aufgebracht. Es könnte sich um eine Krone handeln! Herrjeh! Auf was für einen bedeutenden Fund ist meine Prinzessin denn hier gestoßen? Als sei sie sich der Bedeutung bewusst, springt sie wieder auf und bellt, wedelt freudig mit ihrem Schwanz hin und her. „Brav, Vlaimie!“ Sie legt sich zufrieden wieder ab, während ich das kostbare Buch von der hinteren Einbandseite her aufklappe. In einer Einschubtasche verbirgt sich ein Stück Papier. Es mutet wie eine Landschaftszeichnung an. Soll ich … Nein. Das, geneigte Leser, werde ich noch eine Weile unter Verschluss halten. Müssen. Die Bekanntmachung dieses bedeutenden Fundes will sorgfältig geplant sein. Unter Umständen ist ein Restaurator oder ähnliches zu Rate zu ziehen, der sich damit auskennt, wie derartige Papiere zu trocknen und wiederaufzuarbeiten sind.

Nicht, dass es hierin tatsächlich eine Verbindung zu entdecken gäbe.

Zwischen Vlaimie.

Und dem belgischen Königshaus.